Professor Schachtschneider über den Lissabon-Vertrag

Es ist ruhig geworden um die europäische Verfassung – neuerdings Lissabon-Vertrag genannt – seitdem sie von den erneut abgelehnt wurde. Er ist damit aber noch nicht gestorben, also schadet es nicht, ein paar weitere Stimmen dazu zu hören. Telepolis hat ein Interview mit Professor Karl Albrecht Schachtschneider von der Universität Erlangen-Nürnberg geführt, in dem er seine zahlreichen Bedenken zu dem komplexen Vertragswerk erörtert.

» Teil 1: „Diese Ermächtigungsklauseln lassen schon an schlimmere Zeiten denken“
» Teil 2: Aufrüstungsgebot, EuGH und Korruptionsanreize
» Teil 3: Weltwirtschaftliches Wirken der EU, Parteienstaat und Ethnogenese

Das dreiteilige Interview ist recht lang und leider nicht gerade leicht verdaulich. Daher hier einige Ausschnitte als improvisierte Zusammenfassung:

„Das Parlament wird nicht gleichheitlich gewählt. Das Stimmgewicht jedes Wählers muss ‚gleich‘ sein, das heißt, es darf nach ständiger Rechtsprechung allenfalls um 33% vom Stimmgewicht anderer Wähler abweichen. […] Bei europäischen Wahlen weicht das Stimmgewicht aber um bis zu 1200% ab[…].“

„Das schlimmste [an den Generalklauseln, die den Rat ermächtigen, Inhalte zu ändern oder neue Kompetenzen an sich zu ziehen – Anm.] ist das vereinfachte Vertragsänderungsverfahren, das es ermöglicht, durch Beschluss des Europäischen Rates – das sind die Staats- und Regierungschefs und nach dem Vertrag von Lissabon die Präsidenten des Rates und der Kommission – den gesamten Dritten Teil des Arbeitsvertrages –des alten Gemeinschaftsvertrages – ganz oder zum Teil zu ändern, ohne jede materielle Grenze. Das sind außer der Außen- und Sicherheitspolitik so gut wie alle Politikbereiche.“

„Es ist nicht hinnehmbar, dass der Grundrechtsschutz gegen die Todesstrafe in irgendeinem Bereich aufgehoben wird, der für die Völker Europas bedeutsam ist. […] Auch die Tötung im Falle von Aufruhr und Aufstand wird außerhalb des Grundrechtsschutzes gestellt. Die Demonstrationen in Leipzig 1989 waren allemal Aufstand oder Aufruhr. Also wäre es nach diesem Text gerechtfertigt gewesen, tödlich zu schießen. In einem solchen Land möchte ich nicht mehr leben.“

„Die Union gibt sich in dem Vertrag das Recht zum Kriege, das ius ad bellum, um überall in der Welt „Frieden“ zu schaffen, durch Missionen, durch Bekämpfung von Terror, auch in Drittländern. Es wird ganz deutlich, dass die Europäische Union eine militärische Weltmacht werden will, neben den Vereinigten Staaten von Amerika und anderen Staaten. […] Im Augenblick ist die Union so gut wie nicht kriegsfähig, wie jedermann weiß. Aber genau diese Kriegsfähigkeit will sie erreichen […].“

„Die Richter des Europäischen Gerichtshofs werden im Einvernehmen der Regierungen ernannt. […] Maßgeblich ist der Vorschlag der jeweiligen Mitgliedstaaten, dem nur nicht entsprochen wird, wenn ein anderer Mitgliedsstaat widerspricht. Alle Kriterien, nach denen Richter auszuwählen sind, um deren Neutralität zu gewährleisten, sind verletzt. […] Die Richter werden auch nur für sechs Jahre ernannt, aber mit der Möglichkeit der erneuten Ernennung. Aufgrund der sehr guten Bezahlung […] ist das ein Amt, das jeder Jurist mit Freuden auch länger als sechs Jahre lang ausübt. Die Kürze der Amtszeit und die Möglichkeit der Wiederernennung schadet der Unabhängigkeit.“

„[Der europäische Gerichtshof] hat in 50 Jahren nicht einmal Grundrechtsschutz gegen einen europäischen Rechtsetzungsakt gegeben, obwohl es ja schon über 100.000 solcher Rechtsakte gibt, und hat auch dadurch bewiesen, dass er für den Grundrechtsschutz in der Praxis ungeeignet ist.“

„Es gibt keine Grundrechtebeschwerde. Wir haben die Verfassungsbeschwerde. Diese ist ein sehr wichtiges Instrument und in meinen Augen für einen Verfassungsstaat unverzichtbar. […] Gerade diese Verfassungsbeschwerde gibt es zum Europäischen Gerichtshof nicht.“

„Das Wahlsystem muss kein reines Mehrheitswahlsystem sein, nur ein kluges Wahlsystem, das es gewährleistet, dass die Abgeordneten sich einen Rest von Unabhängigkeit bewahren. Ausgeschlossen werden sollte insbesondere die Möglichkeit der Wiederwahl, so dass das Parlamentsmandat nicht zum Beruf werden kann. Wir haben genug Bürger, die befähigt sind, das Volk im Parlament für eine Legislaturperiode zu vertreten. Wichtig ist, dass die Abgeordneten nicht korrumpiert werden, durch die Lobbyisten, die Parteiführungen u.a. „

„Deshalb bin ich erklärter Anhänger der Volksabstimmung. Ich glaube nicht, dass die Menschen, die abstimmen würden, weniger wissen als die Abgeordneten. Die wissen nämlich von den Verträgen der Union so gut wie nichts. Die Menschen in der Masse sind schwer korrumpierbar. Sicherlich sind sie durch Wahlgeschenke verführbar, aber bei den Abgeordneten kann man jeden einzelnen beeinflussen.“

„Ich will auch nicht gegen die europäische Integration zu Felde ziehen – es geht nur um die Art und Weise, mit der diese betrieben wird.“